zweikronenhaus zittau
zu Tisch - 5

Ruinenromantik ...



Ira Diana Mazzoni, Freie Journalistin, Kröning
abgedruckt in: DSI 2/3/2007, Seiten 144-150.


„Fragmente – Anmutung oder Zumutung?“


Der 75. Tag für Denkmalpflege unter dem Motto „Denkmale als Attraktionen“ war der gemeinsamen Jahrestagung der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger und des Verbandes der Landesarchäologen in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar vorgeschaltet und fand am 10. Juni 2007 in Esslingen am Neckar statt. Diese öffentliche Veranstaltung für alle für den Denkmalschutz verantwortlichen Behördenvertreter und für interessierte Bürger bot einen Überblick über die Bedeutung des baukulturellen und archäologischen Erbes, nannte aber bei allen positiven Impulsen zugleich auch mögliche Gefährdungen durch Tourismus und Eventkultur.

Ira Diana Mazzoni, Preisträgerin 2004 des vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz verliehenen Deutschen Preises für Denkmalschutz, leitete mit ihrem Referat über zum Generalthema der Jahrestagung in deren Verlauf auf ihre Ausführungen immer wieder Bezug genommen wurde. Sie hat sie den „DSI“ dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlichen Dank für die Einladung, als „Vertreterin der Presse“ und langjährige „Denkmal-Anwältin“ am 75. Tag der Denkmalpflege zum Thema „Denkmale als Attraktionen“ zu sprechen. Laut Presseeinladung wird von mir erwartet, dass ich hier das Verhältnis der Denkmalpflege zu den Medien beleuchte und umgekehrt. So wie mein Vorredner die Beziehungen zwischen Tourismus und Denkmalpflege und mein Nachredner diejenige von Archäologie zur Eventkultur.

Lassen Sie mich kurz erklären, warum ich Ihre Erwartungen enttäuschen muss: Meines Erachtens gibt es kein Verhältnis der Denkmalpflege zu den Medien. Waren Pressestellen in den Denkmalämtern schon immer eine Rarität, so ist ihre Einrichtung inzwischen vielerorts obsolet geworden. Wenn es keine unabhängige Fachbehörde mehr gibt, erübrigt sich eine entsprechende Kontaktstelle. Überall da, wo die Politik das Szepter übernommen hat, darf weder der Fachreferent noch der zuständige Landeskonservator das Wort ergreifen. Umgekehrt wird es dem interessierten Journalisten verunmöglicht einfach zum Telefonhörer zu greifen.

Da schaltet sich dann die Pressestelle des entsprechenden Ministeriums ein und entscheidet ob der Fachmann zu diesem oder jenem Fall überhaupt Stellung nehmen darf.

Wenn es ein Verhältnis der Denkmalpflege zu den Medien gibt, dann ist es ein Verhältnis von engagierten Denkmalpflegern zu interessierten Journalisten. Es ist ein Verhältnis von Personen. Wenn es um die Sache geht, geht es um persönliche Kontakte.

Die müssen aufgebaut und gepflegt werden. Vor allem der Kontakt zu den Lokalredaktionen ist wichtig und in der Sache überlebensnotwendig. Aber genau dieses Verhältnis ist häufig aus vielerlei Gründen gestört: Ignoranz auf beiden Seiten, Sprachbarrieren, Zeitprobleme. All dies sind Punkte, die man in einem Presseseminar für Denkmalpfleger angehen könnte, die aber nicht für einen grundsätzlichen Vortrag taugen.

Nun zum zweiten Grund, warum ich ausschere.

Ab Montag widmen sich die hier versammelten Landesdenkmalpfleger und Landesarchäologen dem brisanten Thema „Das Denkmal als Fragment – Das Fragment als Denkmal“. Am heutigen Nachmittag aber soll gegenüber einer allgemeinen Öffentlichkeit über „Denkmale als Attraktionen“ gesprochen werden. Ich sehe jetzt einmal über die äußerst unglückliche, akademisch sperrige, wenig publikumswirksame Formulierung beider Titel hinweg. Jede Formulierung mit „als“ impliziert ja Uneigentlichkeit: Das Denkmal ist nicht Fragment, sondern wird nur einmal unter diesem Aspekt behandelt. Das Denkmal ist nicht Attraktion, sondern übernimmt die Rolle einer Attraktion so wie Peter Simonischek bei den diesjährigen Salzburger Festspielen als Jedermann auftritt. Das kleine Wörtchen „als“ bezeichnet immer eine Nicht-Identität. Ich bin mir aber sicher, dass die, die die Themen formulierten genau dies nicht meinten. Sie wollten heute über vermeintlich attraktive Denkmale sprechen und morgen über Fragmentarisches diskutieren.

Für mich stellt sich die Frage, warum Sie nicht ihr Fachthema auch zum Festthema gemacht haben. Halten Sie Fragmente für so unattraktiv, dass sie lieber nur hinter verschlossenen Türen darüber sprechen? Wäre es nicht gerade eine Herausforderung, dieses sträflich vernachlässigte Thema mit einer Öffentlichkeit zu diskutieren, die sich in wachsendem Maße an so genannte schöne, vermeintlich vollständige Bilder gewöhnt hat und dem Alten, Bröckelnden, Fragilen verständnislos gegenübersteht? Brauchen wir nicht eine allgemein gesellschaftliche Debatte über die Ästhetik und Aussagekraft des Fragments, gerade weil in den Medien so viel über Rekonstruktionen berichtet wird? Und weil so häufig Meldungen vom „alten Glanz“ in Nachrichten und Magazinen verbreitet werden?

Ich bedaure diese Entscheidung für den Titel „Denkmale als Attraktionen“ sehr. Denn meines Erachtens beginnen die denkmalpflegerischen Probleme damit, dass erwartet wird, ein Denkmal habe attraktiv zu sein. Attraktiv im Dienste des Tourismus, attraktiv im Dienste des Stadtmarketings, attraktiv für die Immobilienwirtschaft und für Investoren. Ist ein Denkmal Attraktion oder soll es eine werden, dann ist es in seiner historischen Gesamtheit meist gefährdet. In Extremfällen wird es im Kern (weiter) fragmentiert. In solchen Fällen bleibt allenfalls der äußere Schein eines Denkmals gewahrt.

Attraktionen brauchen Museumshops, Garderoben, Aufzüge, Veranstaltungs-, Ausstellungs- und Konzerträume mit Hightech-Anschlüssen, Klimaanlagen, Catering- Küchen und vieles mehr, das häufig nicht mit dem Wesen des Denkmals in Einklang zu bringen ist. Das zur Attraktion bestimmte Denkmal verliert um zu gewinnen. Es verliert die inzwischen häufig geschmähte Substanz, es verliert Spuren vergangener Zeiten und damit meist auch die kaum erklärliche Aura und gewinnt zumindest kurzfristig Publikum und Nutzer. Gegebenenfalls steigen auch die Einnahmen der Betreiber. Aber stimmen die Relationen? Welche Zeit geben wir einem Denkmal? Und welche Zeit einer Attraktion?

Letzte Woche (5. Juni 2007) las ich unter dem Titel „Fata Morgana an der Ostsee“ einen Denkmalbeitrag von Dankwart Guratzsch über die „Großbaustelle der Backstein-Gotik“ in Wismar: „800 kommen an Wochentagen, mehr als tausend an Sonn- und Feiertagen“ zitiert Guratzsch Diplom Ingenieur Wolfgang Ferdinand, Leiter des Kirchbauamts Wismar, der „ein freudiges Beben in der Stimme nicht unterdrücken“ kann: „Nein solche Besucherströme hätten wir nicht für möglich gehalten.“ St. Georg ist also eine Attraktion seit dem sie aufgehört hat, Ruine zu sein, seitdem dort Handwerker des 21. Jahrhunderts bewiesen haben, dass sie in der Lage sind, gotische Kreuzrippengewölbe zu bauen. Viele Spender haben in diese Arbeit investiert, die von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz gefördert wurde. Guratzsch spricht unumwunden von der „Magie der Backsteingotik“, wagt den Vergleich „Frauenkirche des Nordens“ und wertet: „Dach-, fenster- und türenlos, bot der gewaltige Bau ein Bild des Jammers.“ Das sagt sich so leicht, das schreibt sich so leicht, das ist jedem Leser sofort einsichtig: Aber mit Verlaub: St. Georg war eine wunderbare, eine grandiose Ruine, die mehr über Wismars Vergangenheit verriet, als das neu geschaffene 3-D-Bild einer spätgotischen Kirche. Diese Stadtkrone Wismars hätte nur nach bestem Wissen und Gewissen gesichert werden müssen. Nun wollen die frisch ausgebildeten Gotik-Baumeister auch weiter beschäftigt werden: Schon richtet sich ihr Blick auf die Marienkirche, von der nach DDR- Sprengung nur noch der Turm steht.

Gottfried Kiesow, Präsident der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, vor zwei Tagen von Europa Nostra und der Europäischen Kommission für sein Lebenswerk ausgezeichnet, verteidigt diese und andere Komplettierungen, die Erhaltung von Ruinen sei kostenträchtig, die Alternative wäre, sie „dem völligen Untergang zu opfern“. (Monumente 3/4 2006). Eine solche Aussage entweder/oder bleibt unwidersprochen. Neben dem technischen Argument führt er ein psychologisches an: „Historische Ruinen wie Kloster Arnsburg, Eldena, Paulinzella, Oybin oder Heisterbach üben wegen der romantischen Stimmung in der Tat eine große Anziehung auf Besucher aus, weil sie einsam und landschaftlich reizvoll gelegen sind. In mitten von Ortschaften aber wollen die Bewohner nicht mit Ruinen leben, denn sie erinnern sie im täglichen Leben an das Unrecht, das den Bauten angetan wurde. Die Frauenkirche in Dresden ist der berühmteste Beweis.“

Ist es tatsächlich so, dass Ruinen nur im Sinne eines dem 18. Jahrhundert entstandenen Landschaftsgarten-Konzepts und bei entsprechendem Alter ästhetisch konsumierbar sind, aber mitten in den Dörfern und Städten nicht zu akzeptieren sind?

Während Kiesow und seine Stiftung noch für den Wiederaufbau kriegszerstörter, vom DDR-Regime gesprengter oder bewusst vernachlässigter Gotteshäuser kämpfen und dafür wohl den Heiligen Georg von Wismar demnächst im Wappen führen, während dessen gibt die Kirche, der immer mehr Gemeindemitglieder und damit auch Gelder fehlen, ein Haus nach dem anderen auf. Neugotische Bauwerke und viel Nachkriegsmoderne, aber auch bedeutend ältere Gotteshäuser. Gelegentlich findet sich eine neue Nutzung, gelegentlich ist das Grundstück so wertvoll, dass nach Abriss dort ein neuer Konsumtempel gebaut wird. Aber in vielen schrumpfenden Städten und Gemeinden werden sich weder Interessenten für eine Umnutzung noch für einen Abriss finden lassen. Was dann? Schon jetzt ist klar: Wir werden mit neuen Kirchenruinen leben müssen, mitten im Dorf, mitten in der Stadt. Ja manches Dorf wird aufgrund der demographischen Entwicklung brachfallen, was dann? Deutschland ein Jammertal? Es wäre dringend an der Zeit, darüber nachzudenken, wie man mit den wenigen verfügbaren Mitteln und unserem hohen technischen Wissen, mit solchen Denkmalen umgeht. Wie man ihnen Zukunft sichert, über unsere Generation hinaus.

„Ruinenromantik“ kursiert in Berlin als Schmähwort, dass von dem Berlin- Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Bisky in die Debatte um den Wiederaufbau des Neuen Museums nach Plänen von David Chipperfield geworfen wurde. Chipperfield hat die Ruine des Neuen Museums architektonisch, ästhetisch und funktional zum Maßstab seines Entwurfs gemacht. Die einzigartige Aura des definitiv Vergangenen und doch noch Gegenwärtigen wird auch noch im wiederhergestellten, reparierten, ergänzten Museum präsent sein. Inzwischen werden Unterschriften für einen Bürgerentscheid gesammelt, der eine Rekonstruktion erzwingen will. Es ist schon merkwürdig, dass über ein sorgfältig erarbeitetes, denkmalpflegerisch, künstlerisch, architektonisches Konzept heute sozusagen per TED entschieden werden kann. Und es ist merkwürdig, dass am prominenten Ort, da wo Berlin Welterbe ist und Tourismus-Hochburg, viele - auch fernsehbekannte - Bürger jede Auseinandersetzung mit Vergangenheit in einem Bild vermeintlicher Vollständigkeit aufgehoben haben wollen. Den Status der Ruine als Teil der Zukunft des Museums zu akzeptieren, scheint eine Zumutung, wie die himmeloffene Ruine von St. Georg in Wismar.

Aber was hat es mit der so genannten Ruinenromantik auf sich?

Die Wertschätzung der Ruine als Denkbild scheint mir aufs Engste verknüpft mit einer historischen Bewusstwerdung überhaupt. Die Beschäftigung mit der Ruine scheint am Anfang des geschichtsphilosophischen Denkens zu stehen. Ja, in der Ruine konstituierte sich im 18. Jahrhundert Geschichte.

Das hat weniger mit Romantik als mit Aufklärung zu tun. Und schon gar nichts mit Fin-de-Siècle-Stimmung. Ich bin mir sicher, Professor Georg Mörsch wird morgen in seinem Vortrag genauer auf die Philosophie der Ruine und des Fragments eingehen. Aber lassen Sie mich hier als Autorin des Feuilletons ein paar Anmerkungen machen.

Der Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld schreibt zum Thema Ruine 1780: „Bey allen Ruinen aber stellt der Geist unvermerkt eine Vergleichung zwischen ihrem vormaligen und ihrem jetzigen Zustande an; die Erinnerung an Begebenheiten oder Sitten der Vorwelt wird erneuert; und die Einbildungskraft nimmt aus den vorliegenden Denkmälern Veranlassung weiter zu gehen, als der Blick reicht, sich in Vorstellungen zu verlieren, die eine geheime, aber reiche Quelle des Vergnügens und der süßesten Melancholie enthalten.“ Nun mag Sie das Melancholische nicht unbedingt reizen, aber die Melancholia galt seit der Renaissance als Charakteristikum des denkenden Künstlers, als ausgesprochene Produktivkraft.

Und so wundert es auch nicht, wenn Architekt Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorf – ein Zeitgenosse Hirschfelds - auf seiner Grand Tour durch Italien vor dem Kolosseum in Rom notiert: „Da bin ich nun oft recht froh darüber, dass von allem diesem so viel ruiniert ist. Denn wäre es vollständig erhalten, ich würde mir nicht den zehnten Teil soviel selbst dabei denken können.“

Wenig später notiert der preußische Gesandte in Rom, Wilhelm von Humboldt ... „nur als Vergangen muss das Altertum uns erscheinen. Es geht damit wie wenigstens mir und einem Freunde mit den Ruinen: wir haben immer einen Ärger, wenn man eine halb versunkene Ruine ausgräbt; es kann höchsten Gewinn der Gelehrsamkeit auf Kosten der Phantasie sein“.

Fassen wir zusammen: Die Ruine wurde geschätzt, weil sie die Vorstellungskraft, die Phantasie und den Intellekt anregte, „weiter zu gehen, als der Blick reicht“. In unsere Sprache übersetzt: Die Ruine hatte ihren Reiz, weil sie Geschichte virtuell offen hielt.

Merkwürdig, dass wir uns heute, wo uns alle Möglichkeiten virtueller Rekonstruktion gegeben sind, weiter zu gehen als der Blick reicht, unbedingt auf ein einziges Bild vermeintlicher Vollständigkeit verständigen wollen. Wir ersetzen damit eine historische Erzählung, die wie jeder aufrechte Historiker zugeben wird, Möglichkeiten sinnvoll und nicht ohne Phantasie verknüpft, durch ein schlichtes Statement. Wir ersetzen das Denkmal durch ein 1:1 Modell, in dem das Fragment allenfalls noch als Zitat, als kleiner Beleg in der Fußnote erscheint.

Georg Simmel hat Anfang des 20. Jahrhunderts der Ruine ein aufschlussreiches philosophisches Essay gewidmet, darin heißt es: „Die Ruine schafft die gegenwärtige Form eines vergangenen Lebens, nicht nach seinen Inhalten oder Resten, sondern nach seiner Vergangenheit als solcher. Dies ist auch der Reiz der Altertümer, von denen nur eine bornierte Logik behaupten kann, dass eine absolut genaue Imitation ihnen an ästhetischem Wert gleichkäme.“

Die Ruine erscheint ihm als „äußerste Steigerung und Erfüllung der Gegenwartsform der Vergangenheit“. „Gleichviel, ob wir im einzelnen Fall betrogen sind – mit diesem Stück, das wir in der Hand halten, beherrschen wir geistig die ganze Zeitspanne seit seiner Entstehung, die Vergangenheit mit ihren Schicksalen und Wandlungen ist in dem Punkt ästhetisch anschaulicher Gegenwart gesammelt.“ Ist das nun ruinenromantisch? Altmodisch? Den Kindern des Medienzeitalters nicht zu vermitteln? Ist die Ruine, das Fragmentarische heute eine Zumutung, weil es eine Zumutung ist, das Vergangene so Gegenwärtig zu haben? Oder weil es eine Zumutung ist, Phantasie und Geist anzustrengen?

Merkwürdig ist doch, dass all die perfekten Ergänzungen, Retuschen, Rekonstruktionen in den Dienst der Vergegenwärtigung, der Erlebbarkeit, der Nachvollziehbarkeit von Geschichte gestellt werden. Ja manche Denkmalpfleger glauben sich auf der Höhe der Zeit und der Wissenschaft wenn sie mit dem sogenannten Iconic turn die Denkmalpflege zur Bildwissenschaft und nicht zu einer historischen Disziplin erklären. Sie erhoffen sich insgeheim mit dieser Position auch mehr Akzeptanz bei Politik und Medien, die sich auf die Macht der Bilder verstehen. Die Frage, die sich dann freilich anschließt, ist: Warum soll uns etwas neu Gemachtes an Vergangenes heranführen?

Auch das 18. und 19. Jahrhundert setzte auf die Macht der Bilder. Die Ruine, das Fragment waren geradezu Embleme des Historischen. Ihre sinnliche Präsenz stimulierte die Annäherung an Vergangenheit, wobei die Differenz zur Gegenwart geradezu konstituierend war für die phantasieweckende Anmutung. - Wieder so ein grässlich altmodisches Wort, das so viele Möglichkeiten offen hält.

Alois Riegl, einer der großen Mentoren der modernen Denkmalpflege behauptete einmal, der Alterswert hebe den Anspruch „auf die großen Massen zu wirken“. „Der Gegensatz zur Gegenwart, auf dem der Alterswert beruht, verrät sich vielmehr in der Unvollkommenheit, einem Mangel an Geschlossenheit, einer Tendenz der Auflösung der Form und Farbe, welche Eigenschaften denjenigen moderner, das heißt neu entstandener Gefilde schlankweg entgegengesetzt ist.“

Der Alterswert mache „sinnliches Erleben“ von Geschichte erst möglich. Dieses sinnliche Erleben bestimmt bis heute unsere Begegnung mit italienischen Dörfern und Städten. Auch in England scheint uns die Tendenz der Auflösung reizvoll. Nur bei uns, muss alles neu werden. Und wenn das Alte zu alt aussieht, dann wird es aus dem Stadtbild eliminiert, abgerissen. An seine Stelle tritt dann eine grün gestaltete Fläche. Und dann kommen Projektgruppen, die „Seh-Hilfen“ installieren, um den Bewohnern die „Ästhetik der Leere“ näher zu bringen. Seh-Hilfen zur Ruinen-Ästhetik und ein paar stützende Hilfskonstruktionen wären sinnvoller gewesen. Aber unbewohnte, verfallende Altbauten ruinieren ja den Immobilienmarkt. Der Abriss wird (noch) öffentlich finanziert, in der Lücke bleibt Baurecht erhalten. Und das städtebauliche Denkmal gehört der Geschichte an, bis jemand in ferner Zukunft ein Bild aus dem Archiv holt und zumindest die Fassade rekonstruiert und mit einem Fragment garniert. Mit Geschichte hat das dann nichts mehr zu tun. Und selbst als Artefakt bleibt das so Anschaulich gemachte fragwürdig.

Die Lage scheint mir allerdings nicht ganz hoffnungslos. Hier und da beginnen selbstbewusste Architekten über das geschichtliche Potential des Fragments und der Ruine nachzudenken. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir bald eine ganz pragmatische und nicht romantische Debatte über die Anmutung von Ruinen haben werden. Schade nur, dass bis dahin die wohl berühmteste Schlossruine der Denkmalpflege kaum noch als solche wirken wird. Denn auch das Heidelberger Schloss soll attraktiver werden.“

Ira Diana Mazzoni, Freie Journalistin, Kröning

abgedruckt in: DSI 2/3/2007, Seiten 144-150.